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Essstörungen in der Hausarztpraxis

Falsches Selbstbild

Essstörungen sind schwerwiegende psychosomatische Krankheiten mit Suchtcharakter, die oft auf ein falsches Bild des eigenen Körpers zurückgehen. Häufige Formen sind die Magersucht (Anorexie), die Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und die Esssucht (Binge Eating Disorder).
© Xenia-Luise – fotolia.com
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Was bei Kindern und Jugendlichen häufig mit einer harmlosen Diät beginnt, endet nicht selten in einer ernsthaften Erkrankung – einer Essstörung. Die Zahl der Betroffenen wird in Deutschland auf rund fünf Millionen geschätzt und mehr als 20 Prozent der Schüler im Alter zwischen 14 und 18 Jahren haben ein gestörtes Essverhalten – eine mögliche Vorstufe von Essstörungen.

Die Ursachen für Essstörungen sind vielfältig und komplex. Hier spielen u. a. Schönheitsideale eine Rolle, wie sie in Werbung und Medien suggeriert werden. Umfragen zufolge möchte die Hälfte der erwachsenen Deutschen gern schlanker sein, 70 Prozent der Frauen findet sogar ein Gewicht unterhalb des Normalgewichts am attraktivsten. Oft sind Störungen des Essverhaltens aber auch eine Reaktion auf gesellschaftlichen oder familiären Leistungsdruck und können nicht zuletzt auch in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch stehen. Man unterscheidet drei Hauptformen von Essstörungen.

  • Magersucht (Anorexie)
  • Ess-Brech-Sucht (Bulimie)
  • Binge Eating Disorder (BED, Esssucht

Magersucht (Anorexie)

Magersucht tritt vor allem im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auf, aber es sind auch Ersterkrankungen vor dem 10. und nach dem 25. Lebensjahr möglich. Nach Schätzungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind etwa 100.000 Menschen in Deutschland betroffen. Magersucht-Patienten essen nur sehr wenig und haben daher meist deutliches Untergewicht. Viele hungern aber weiter, auch wenn ihr Gesundheitszustand längst lebensbedrohlich geworden ist. Es besteht eine gestörte Wahrnehmung hinsichtlich Gewicht, Größe und Form des eigenen Körpers. Magersüchtige sind stolz darauf, sich unter Kontrolle zu haben. Diese Kontrolle vermittelt ihnen das Gefühl, selbstständig zu sein.

Mit der Zeit treten körperliche Folgeschäden auf: Stoffwechsel, Puls, Blutdruck und Körpertemperatur sinken ab. Das führt zu Müdigkeit, Frieren und Verstopfung. Trockene Haut und brüchige Haare zeigen die hormonellen Veränderungen an, wodurch auch die Menstruation ausbleibt und sich im Extremfall die Körperbehaarung verändert. Oft leiden Magersüchtige auch an Depressionen. Als Hauptdiagnosekriterium gilt ein Körpergewicht mindestens 15 Prozent unter dem für Alter und Körpergröße erwarteten Gewicht (oder ein BMI von 17,5 oder weniger). Eine Magersucht kann in eine Bulimie übergehen und umgekehrt oder sich auf andere Suchtformen (Alkohol, Drogen und Medikamente) verlagern.

Ess-Brech-Sucht (Bulimie)

Bei dieser Essstörung wechseln sich unkontrollierte Essattacken, Erbrechen und strenge Diätphasen ab. Während der Heißhungeranfälle verschlingen Bulimie-Patienten große Nahrungsmengen. In der Regel erleiden sie mindestens zweimal pro Woche, oft aber auch täglich, eine solche Heißhungerattacke, die zwischen 15 Minuten und vier Stunden dauern kann. Weil sie wie Magersüchtige panische Angst davor haben, dick zu werden, erbrechen sie anschließend oder nehmen Abführmittel und Tabletten zur Entwässerung. Zwischen den Anfällen kontrollieren sie ihr Essverhalten, indem sie nur sehr wenig essen und ständig Diät halten. Im Gegensatz zur Magersucht sind die Betroffenen normalgewichtig und im alltäglichen Leben weitgehend unauffällig. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind in Deutschland rund 600.000 Menschen betroffen, 85 Prozent sind junge Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Wenn Bulimie über Jahre hinweg andauert, können Gesundheitsschäden wie Herzrhythmusstörungen, Kreislaufprobleme, Kalium- sowie Magnesiummangel oder Nierenschäden auftreten. Möglicherweise bleibt die Menstruation aus und es kommt zu Schlafstörungen, Haarausfall und Konzentrationsstörungen.

Die Grenzen zwischen der Magersucht und Ess-Brech-Sucht sind oft fließend. In beiden Fällen ist neben der medizinischen Betreuung eine Psychotherapie sinnvoll. Die Einsicht, erkrankt zu sein, ist schon ein erster wichtiger Schritt. Mit professioneller Hilfe können die Patienten langfristig wieder lernen, regelmäßig zu essen und die Bedeutung von Essen und Körpergewicht für ihr Selbstwertgefühl zu reduzieren.

Ess-Sucht (Binge Eating Disorder)

Grafik: Katharina Merz
Grafik: Katharina Merz
Essstörungen gelten als Teufelskreis zwischen einem gezügelten Essverhalten einer Störung der Gefühle von Hunger und Sättigung, der Beschäftigung mit dem Essen und der Angst vor Gewichtszunahme. Nach Schneider/Niebling: Psychische Erkrankungen in der Hausarztpraxis, Springer 2008.

Bei der Esssucht handelt es sich um eine Störung des Essverhaltens, bei der große Mengen an Nahrungsmitteln verschlungen werden. Sie wird auch als Binge Eating Disorder bezeichnet. Im Unterschied zur Bulimie ergreifen die Betroffenen keine Gegenmaßnahmen, dadurch entsteht meist ein deutliches Übergewicht, das wiederum Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkleiden, Wirbelsäulenschäden und Diabetes mellitus verursachen kann. Esssüchtige haben das Gefühl für Hunger und Sättigung verloren. Anders als bei Bulimie oder Anorexie gibt es keine typische Altersgruppe. Ein erster Schritt, um aus dieser Essstörung herauszukommen, ist das Wiedererlernen von genussvollem, bewusstem und regelmäßigem Essen. Auch bei dieser Essstörung ist neben der medizinischen Betreuung eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll.

Als Praxisteam aufmerksam sein

Viele Betroffene verheimlichen ihr Problem jahrelang, die meisten kommen auch nicht wegen der Essstörung in die Hausarztpraxis. Typische Symptome, mit denen sich solche Patienten in der Praxis vorstellen, sind unter anderem Müdigkeit, Schwindel, Ausbleiben der Regelblutung, Gewichtsverlust oder Gewichtszuwachs, Verstopfung, Bauchschmerzen, Sodbrennen, Schlaflosigkeit und deutliches Übergewicht (bei den Esssüchtigen).

Es ist schwer zu erkennen, ob eine Patientin oder ein Patient unter einer Essstörung leidet. Am meisten fallen Veränderung der Körpermaße und -formen auf, aber auch die Folgen von selbstverletzendem Verhalten sind mitunter deutlich zu sehen. Manchen Patienten sieht man eine lang andauernde Essstörung selbst bei Normalgewicht an, eingefallene Wangen und blassgelbe Haut können darauf hinweisen.

Wenn Ihnen etwas entsprechendes auffällt, sollten Sie auf jeden Fall den Arzt bzw. die Ärztin darauf hinweisen. Und wenn die Patienten im Gespräch an der Rezeption Probleme mit Essen oder Gewicht erwähnen, können Sie sie darin bestärken, das unbedingt im Arztgespräch zu thematisieren. Mitunter kann es sinnvoll sein, mit einem Beispiel zu signalisieren, dass Sie solche Situationen kennen: Ich weiß von einer Freundin, die ständig nur noch ans Essen gedacht hat, wie anstrengend das ist. Erst nach ihrer Therapie hat sich das langsam gebessert. Denn je früher eine Essstörung therapiert wird, desto besser sind die Erfolgsaussichten.

Nicht nur Jugendliche sind betroffen

Eine Essstörung kann in jedem Lebensalter entstehen oder wieder aufleben. Wenn eine Magersucht oder eine Bulimie nach dem 25. Lebensjahr entsteht, wird von einer Spätanorexie (Anorexie tardive) oder einer Spätbulimie (Bulimie tardive) gesprochen. Auslöser können schwere Krisen im Leben, der veränderte Körper nach der Geburt eines Kindes, jahrelange Diäten oder die Angst vor dem Älterwerden sein. Vor allem in den Wechseljahren, die wie die Pubertät eine Übergangszeit von einem Lebensabschnitt zum anderen sind, geraten viele Frauen in eine Identitätskrise, die mit einer Essstörung einhergehen kann.

Tendenziell leidet ein nicht unerheblicher Teil derer, die in der Pubertät eine Essstörung entwickelt haben, auch noch oder auch wieder im höheren Alter unter der Symptomatik. In diesen Fällen kann es trotz vieler Behandlungsversuche zu einer Chronifizierung gekommen sein, die sich über viele Jahre hinzieht und die körperliche und emotionale Gesundheit sehr beeinträchtigt. Mit solchen Patienten sollten Sie als Praxisteam besonders aufmerksam sein.

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