Das Magazin für Medizinische Fachangestellte

Tipps für den interkulturellen Dialog

Die Welt im Wartezimmer

In Deutschland leben Menschen mit 170 bis 190 unterschiedlichen Nationalitäten. Neben dem Fehlen einer gemeinsamen Muttersprache führen nonverbale Besonderheiten leicht zu Missverständnissen und Vorurteilen. Einige Tipps können zum Gelingen der notwendigen Kommunikation an der Rezeption und im Wartezimmer beitragen.
© Kadir Tinte – 123rf.com
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Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist ein wachsender Teil Deutschlands. Oft gelingt deren Integration schnell und unauffällig, manchmal bleibt sie aber chancenlos. Dann ist der Prozess langwierig und von gegenseitigen Missverständnissen geprägt. Als fremd Erlebtes zu verstehen und einzuordnen, kann zu einem besseren Verständnis führen und Anregungen für einen interessanten Austausch geben.

Kinder, Eltern und bewährte Rollen

Das deutsche Gesundheitssystem ist für viele Einwanderer eine wahre Herausforderung. Nicht nur, dass es eine Vielzahl von Angeboten bereithält, die es in den arabischen, asiatischen, afrikanischen oder osteuropäischen Herkunftsländern so nicht gibt.

Es werden Frühförderungsmaßnahmen empfohlen, von denen man in anderen Teilen der Welt vielleicht noch nie etwas gehört hat und die vielfach als Überforderung der Kinder verstanden werden. Aber sie ist doch noch so klein kann Ausdruck einer derartigen Einschätzung sein. In traditionellen türkischen Familien geht man zum Beispiel davon aus, dass Lernen erst im Alter von sechs Jahren beginnt und vorwiegend in der Schule stattfindet. Warum soll die Dreijährige individuell gefördert werden, wenn Mutter und Oma doch zu Hause gut für sie sorgen? Vielfach orientiert man sich am Willen der Kinder. Wenn sie nicht laufen wollen, obwohl es aufgrund von Übergewicht etc. besonders sinnvoll wäre, brauchen sie das nicht. Dann wird auch der Fünfjährige mit dem Kinderwagen zur KiTa gefahren. Was tun in einem solchen Fall?

Tipp: Nehmen Sie sich Zeit für ein Gespräch. Sparen Sie Vorwürfe aus, loben Sie das Engagement der Eltern und sagen Sie, was Sie täten, wenn Aynur, Mehmet oder Amira Ihr Kind wäre.

Weisen Sie ruhig auch auf die besondere Chance der frühen Förderung hin. Vielleicht gibt es Projekte in ihrer Nähe, wo die Eltern muttersprachliche Unterstützung finden können? Eltern möchten immer das Beste für ihre Kinder, egal woher sie kommen oder wo sie gerade leben.

Deutsch-türkische App

Um türkischsprachige Versicherte noch besser über Vorsorgeangebote zu informieren, bietet die AOK einen zweisprachigen Vorsorgemanager als App für Android-Smartphones an. Der „AOK-Saglık hizmeti“ ermöglicht es, ein persönliches Vorsorgeprofil zu erstellen und Vorsorgetermine für sich und die ganze Familie zu koordinieren. Für Gespräche mit dem Arzt ist ein deutsch-türkisches medizinisches Wörterbuch enthalten. Die Nutzer können entscheiden, ob sie die App auf Deutsch oder auf Türkisch nutzen wollen.

Kollektivismus – Individualismus

In den sogenannten kollektivistischen Gesellschaften wird bei der Kindererziehung wenig Wert auf individuelle Fähigkeiten und frühe Förderung von Selbstständigkeit gelegt. Wichtiger ist das Erlernen von Regeln und Rollenmodellen. Dazu kann es auch gehören, dass kleine Jungs für einen Wutausbruch aus nichtigem Anlass noch gelobt werden – schließlich trainiert das männliches Durchsetzungsvermögen.

Tipp: Es hat wenig Sinn, einen kleinen Macho zu kritisieren. Er benimmt sich ganz normal. Versuchen Sie im Zweifelsfall, positiv auf bestehende Fähigkeiten zu verweisen und sowie Ehrgeiz und Interesse anzustacheln. Die Erwachsenen sehen ihre Rolle traditionell im Versorgen und Verwöhnen. Machen Sie deutlich, dass Liebe geben auch bedeuten kann, vom Kind etwas zu fordern und ihm wo nötig Grenzen zu setzen.

Befremdende Bilder

© Klaus Rose
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Wo tut es weh? Patienten aus anderen Kulturen erwarten oft eine „Diagnose ohne Selbstbeteiligung“.

Manchmal machen wir im Umgang mit Patienten und Patientinnen mit Migrationshintergrund Erfahrungen, die verunsichern und schnelle Erklärungen bei uns hervorrufen. Da rastet der marokkanische Vater aus, beschimpft und bedroht die Kollegin aus nichtigem Anlass. Wir meinen: Er ist gewalttätig. Oder die türkische Mutter wird von ihrem Fünfjährigen mit Ausdauer vor das Schienbein getreten und beschimpft, ohne zu reagieren. Wir meinen: Erzieht nicht, Ist überfordert. Dabei kann es auch andere Erklärungen geben.

Tipp: Bleiben Sie ruhig. Schauen und hören Sie genau hin: Der marokkanische Vater ist vielleicht außer sich vor Angst und Unsicherheit auf unbekanntem Terrain, fühlt sich womöglich respektlos behandelt und versucht, seine Rolle zu finden. Den Fünfjährigen können Sie dagegen zur Ordnung rufen.

Nicht ungewöhnlich ist auch, dass erwachsene Patienten in der Sprechstunde stöhnen und jammern oder während der Untersuchung laut aufschreien, ohne dass es dafür einen konkreten Anlass gegeben hat. Das starke Stöhnen soll das gefühlte Kranksein (Alles tut weh) deutlich machen, stößt hier aber zumeist auf Irritationen und Ablehnung, genau wie die Somatisierung emotionaler Befindlichkeiten (u. a. Depressionen). Dazu sollten Sie wissen: Mancher Patient fühlt sich mit dem Ansinnen, das Unwohlsein genau zu beschreiben, überfordert. Oft wird vom Arzt eine Diagnose ohne Patientenbeteiligung erwartet.

Nonverbale Irritationen

Besondere Fallstricke gibt es auch bei der nonverbalen Kommunikation. Das fängt schon bei der Begrüßung an. Der 50-jährige muslimische Patient ist in der Gemeinschaftspraxis vielleicht verwirrt, weil der Arzt eine Frau ist. Er möchte ihr nicht die Hand geben, weicht ihrem Blick aus und scheut sich, Hemd und Hose abzulegen. Eine Situation, die leicht eskalieren kann.

Tipp: Nicht ärgern. Manche muslimische Patienten sind im Umgang mit Frauen, die nicht zur Familie gehören, wenig erfahren. Im traditionell-islamischen Kontext gehört es sich nicht, den Blick fremder Frauen zu halten, während Blickkontakt bei der Begrüßung und im Gespräch in unserem Kulturkreis eine große Rolle spielt. Das Gleiche gilt für den angemessenen Händedruck. In anderen Kulturen berühren sich Mann und Frau nur im familiären Kontext. Ärztin und MFA können in einem solchen Fall interkulturelle Kompetenz zeigen, indem sie betont sachlich mit der Situation umgehen: nur ärztlich notwendige Nähe herstellen, auf länger andauernden Augenkontakt verzichten oder aber nachfragen, ob der Patient sich lieber einem Kollegen vorstellen möchte.

Wenn ein arabischer oder türkischer Vater seinen Sohn oder die Tochter zur Untersuchung begleitet, ohne selbst beim Aus- oder Ankleiden zu helfen, hat das oft System. Denn es gehört sich in vielen Familien nicht, sein nacktes oder teilweise entkleidetes Kind anzusehen. Das Einhalten dieser Regel wird dann gerne durch die Beschäftigung mit dem Handy oder den demonstrativen Blick aus dem Fenster ausgedrückt.

Tipp: Seien Sie nicht sicher, dass Ihre Gesten für Ihr Gegenüber das Gleiche bedeuten. Das Nicken kann auch Nein bedeuten, das Kopfschütteln Ja, das lobende Daumenstrecken wird zur Beleidigung oder die Geh schon mal nach drüben-Geste zum Komm! In der interkulturellen Begegnung gibt es kein Richtig oder Falsch – man sollte das Gewohnte aber ruhig mal infrage stellen.

PortraitDr. Anne Dietrich
ist Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin und hält Fortbildungen zur interkulturellen Kompetenz.