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Neue Serie: Kulturelle Vielfalt in der Hausarztpraxis

Klare Rollenverteilung

Migration ist nicht nur das politische Thema unserer Zeit, in den Hausarztpraxen erwachsen daraus ganz praktische Herausforderungen. In der ersten Folge der neuen info praxisteam-Serie Kulturelle Vielfalt in der Hausarztpraxis geht es um Unterschiede im Rollenverständnis und den Ansichten zur Gesundheit sowie um Sprachbarrieren.
© Klaus Rose
© Klaus Rose

Serie „Kulturelle Vielfalt“

Unterschiede zwischen Menschen aus dem eigenen Kulturkreis und Migranten aus Südosteuropa, dem Nahen Osten, Asien und Afrika gibt es viele – auch im Bereich der Medizin. Denn was wir unter Krankheit verstehen und wie wir Beschwerden äußern, ist stark kulturell geprägt. Mehr noch: Während in Deutschland die klassische Schulmedizin den Alltag einer Arztpraxis bestimmt, sind in vielen Ländern, aus denen Migranten nach Deutschland kommen, magische Praktiken noch weit verbreitet.

Wenn Migranten aus Südosteuropa über diffuse Schmerzen klagen, wird mancherorts gerne etwas respektlos Morbus Bosporus diagnostiziert. Die kulturellen Hintergründe liefern in vielen Fällen einen Ansatzpunkt für die Therapie. Die Patienten sind manchmal nicht in der Lage, die genaue Lokalisation von Schmerzen zu beschreiben. Sie äußern deshalb zum Beispiel somatische Symptome auf Basis von seelischen Problemen häufig als Bauchschmerzen.

Die Erwartungen der Patienten kennenlernen

Mancher Patient fühlt sich mit dem Ansinnen, das Unwohlsein genau zu beschreiben, überfordert. Stattdessen ist es nicht ungewöhnlich, dass erwachsene Patienten in der Sprechstunde stöhnen und jammern oder während der Untersuchung laut aufschreien, ohne dass es dafür einen konkreten Anlass gegeben hat. Das starke Stöhnen soll das real erlebte Kranksein (Alles tut weh) deutlich machen. Oft erwarten die Patienten vom Arzt eine Diagnose ohne eigene Beteiligung.

Für die interkulturelle Kommunikation zwischen Arzt und Praxisteam auf der einen Seite sowie dem Patienten auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Dingen zu beachten. Es gibt weder den Muslim , noch den Migranten. Wichtig ist es immer, heraus zu finden, was der Patient selbst als Ursache für das Gesundheitsproblem erlebt, und was er selbst für die beste Behandlung dieses Problems hält.

Fragen wie: Wie nennt man denn die Beschwerden in ihrer Muttersprache? oder Wie wirken Ihre Beschwerden auf Ihren Körper und Geist? können bei der Diagnose und Therapie durchaus hilfreich sein. Genauso wichtig ist es, herauszufinden, was die geeignete Umgangsform zwischen Patient und Arzt bzw. Praxis ist: Wer ist der Ansprechpartner in der Familie? Wer entscheidet? Dazu kann man zum Beispiel fragen, wie Familie und Freunde auf die Beschwerden reagieren.

Sprachprobleme und kulturelle Missverständnisse

Erfolgreiche Behandlung setzt voraus, dass sich Arzt/Praxisteam und Patient miteinander verständigen können. Es gibt unter den Migranten einen durchaus relevanten Anteil an Analphabeten und ein großes Wissensdefizit.

Wir haben gerade einen Diabetiker in unserer Praxis, der uns wirklich Sorgen macht, berichtet eine MFA in der Ärzte Zeitung. Ich habe ihm jetzt schon vier Mal in langsamer Sprechweise erklärt, wie er sich sein Insulin spritzen muss. Immer sagt er: Ja, das habe ich verstanden! Hake ich nach, wird er zornig und schimpft, ich soll ihn nicht wie ein Kind behandeln.

Die Sprachbarriere kann für Frustration auf beiden Seiten sorgen. Eine neugierige, akzeptierende und wertschätzende Haltung ist deshalb enorm wichtig. Sonst sind hohe Therapieabbruchraten die zwangsläufige Folge. Besser als ein Familienmitglied ist oft eine außenstehende Person als Dolmetscher.

Bei Verständigungsschwierigkeiten mit Patienten können Praxen auf kostenloses Infomaterial zurückgreifen, das unter anderem bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestellt werden kann: Therapiepläne als Bildergeschichte, Anamnesebögen, auf denen Patienten an einer aufgezeichneten Person ihre persönlichen Schmerzpunkte ankreuzen können. Auch die Krankenkassen bieten fremdsprachiges Informationsmaterial für die Kommunikation mit Migranten an, etwa die AOK den deutsch-türkischen Vorsorgemanager "AOK-Salk hizmeti" als App für Smartphones. Die Nutzer können entscheiden, ob sie die App auf Deutsch oder auf Türkisch nutzen wollen. Andere nützliche Hilfsmittel sind die in mehreren Sprachen verfassten Impfpläne des Robert Koch-Instituts. Videos helfen häufig am besten, die Sprachbarrieren zu überwinden.

Besondere Fallstricke gibt es auch bei der nonverbalen Kommunikation. Das fängt schon bei der Begrüßung an. Der 50-jährige muslimische Patient ist vielleicht irritiert, weil der vermeintliche Arzt in der Gemeinschaftspraxis eine Frau ist. Er möchte ihr nicht die Hand geben, weicht ihrem Blick aus und scheut sich, Hemd und Hose abzulegen. Eine Situation, die durchaus schwierig sein kann.

Ärztin und MFA können in einem solchen Fall interkulturelle Kompetenz zeigen, indem sie betont sachlich mit der Situation umgehen: nur ärztlich notwendige Nähe herstellen, auf länger andauernden Augenkontakt verzichten und die Situation empathisch erklären.

Andere Kulturen richtig einschätzen

Nun ist es unmöglich, sich auf jede einzelne Kultur einzustellen. Doch das müssen Sie auch nicht. Ein einfaches Modell zur Kommunikation ist das Business Behaviour-Modell über soziales Verhalten im beruflichen Alltag. Es wurde von dem US-Amerikaner Richard R. Gesteland entwickelt und lässt sich gut auf die Arztpraxis übertragen.

Demnach beziehen sich die Erwartungen (hier des Patienten) im Wesentlichen auf die Achtsamkeit und die Wertschätzung durch den Geschäftspartner – in unserem Fall also Arzt und Praxisteam. Nach dem Modell von Gesteland gibt es nur zwei verschiedene Typen:

  • Abschlussorientierte Personen konzentrieren sich auf die Sache, nehmen zeitliche Verpflichtungen und Termine ernst, fragen nach detaillierten Hintergrundinformationen und halten Anweisungen gewissenhaft ein. Sie sind an kurzfristige Beziehungen gewöhnt.
  • Beziehungsorientierte Personen legen extrem viel Wert auf die persönliche Beziehung, neigen zu Unterbrechungen, sehen Termine als Richtwerte und ändern ihre Pläne oft und ohne Umstände. Sie sind sehr besorgt um Roseenge Verwandte und haben eine Tendenz, lebenslange Beziehungen aufzubauen.

Das Praxisteam wird in dieser Typologie in der Regel abschlussorientiert sein. Wir erwarten von Patienten in erster Linie Kooperation mit unserer Arbeitsweise und mit den Erfordernissen des Praxis-alltags. Viele Patienten erwarten aber eher aufmunternde Worte, mitfühlende Gesten, das Gefühl, umsorgt zu werden. Bei ausländischen Patienten wird das Ganze noch verstärkt, weil viele davon überzeugt sind, eine Krankheit nur mithilfe ihrer Familie bewältigen zu können. Die Angehörigen sind für die Behandlung des Patienten dann ein wichtiger Bestandteil. Wenn man sich diese Diskrepanz der Erwartungen deutlich macht, werden viele Alltagsschwierigkeiten verständlich und sind leichter auszubalancieren.

Ältere Migranten

Schon vor Ausbruch der Flüchtlingskrise prognostizierte das Statistische Bundesamt, dass sich die Zahl der über 64-jährigen Personen mit ausländischer Herkunft bis 2030 mehr als verdoppeln wird auf dann weit über drei Millionen. Viele waren während ihres Erwerbslebens selten bis nie krank und benötigen erst jetzt im Alter ärztliche Betreuung und Pflege. Erste Anlaufstelle ist dann die Hausarztpraxis.

Ihr Gesundheitszustand ist oft schlechter als der Durchschnitt – unter anderem auch deshalb, weil sie angebotene Dienstleistungen seltener in Anspruch nehmen. So besagt die Jahresstatistik der Deutschen Rentenversicherung Bund, dass Versicherte mit Migrationshintergrund deutlich seltener eine Reha nutzen. Während bei deutschen Versicherten 103 Rehabilitanden auf 10.000 Versicherte kommen, sind es bei Migranten aus der Türkei oder anderen Ländern Südeuropas zwischen 86 und 77 auf 10.000 Versicherte und bei DRV-Versicherten aus der ehemaligen Sowjetunion nur 57 von 10.000 Versicherten.