Das Magazin für Medizinische Fachangestellte

Multimedikation

Gute Pillen, schlechte Pillen

Patienten mit mehreren Erkrankungen wird oft ein ganzer Mix von Medikamenten verordnet – und zudem nehmen sie oft zusätzlich nicht rezeptpflichtige Präparate ein. 10 oder 15 Pillen pro Tag sind deshalb für viele Patienten keine Seltenheit. Doch mit der Pillenzahl wächst das Risiko, dass diese Medikamente sich gegenseitig ungünstig beeinflussen. Dann können selbst wichtige Medikamente lebensbedrohlich werden.
© Robert Kneschke - fotolia.com
© Robert Kneschke - fotolia.com

Zwölf verschiedene Tabletten zu fünf verschiedenen Tageszeiten sind keine Seltenheit, wenn Menschen mit mehreren, teilweise chronischen Krankheiten leitliniengetreu behandelt werden. Man spricht von Polypharmazie. Das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) steigt dadurch beträchtlich: Stürze beim nächtlichen Toilettengang aufgrund muskelrelaxierender Schlafmittel, Verwirrtheit, Magenbeschwerden als Folge von Dauermedikationen – um nur einige zu nennen. Davon sind vor allem ältere Menschen betroffen. Das hat verschiedene Ursachen:

  • Sie leiden häufiger als junge Menschen an mehreren Erkrankungen gleichzeitig, und meist bekommen sie für jede einzelne Medikamente.
  • Die Ausscheidung von Wirkstoffen über die Niere nimmt mit dem Alter ab, die altersbedingte Reduktion des Gesamtkörperwassers und die Zunahme des Körperfetts können zu einer Kumulation und verlängerter Wirkdauer führen und die Empfindlichkeit für bestimmte Arzneistoffe kann zu- oder abnehmen. Überdies kann die gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente zu Enzyminduktionen und Wechselwirkungen führen, die den Wirkspiegel verändern.
  • Löst der Medikamentenmix Beschwerden aus, werden diese nicht immer als Nebenwirkungen erkannt, sodass nicht das auslösende Medikament modifiziert, sondern ein weiteres angesetzt wird.

Doch weder die Leitlinien für krankheitsspezifische Behandlungsempfehlungen, noch Arzneimittelstudien berücksichtigen die Besonderheiten des alternden Körpers bisher ausreichend. Ein großes Problem ist oft auch der fehlende Überblick. Den Diabetes behandelt der Diabetologe, die Arthrose der Orthopäde, die Herzbeschwerden der Kardiologe, die Lungenerkrankung der Pneumologe und die anhaltenden Blasenentzündungen der Urologe. Noch schwieriger wird es bei einem Krankenhausaufenthalt. Hier bekommt der Patient oft einen veränderten Medikationsplan – zum Teil mit Medikamenten, die Komplikationen im Rahmen des stationären Aufenthaltes vermeiden sollen, dann aber ohne Fortbestehen des ursprünglichen Verordnungsgrundes doch weiter eingenommen werden.

OTC-Präparate werden kaum erfasst

Dazu kommen noch die nicht verschreibungspflichtigen OTC-Präparate, die der Patient selbst in der Apotheke kauft und die ebenfalls Nebenwirkungen und insbesondere auch erhebliche Wechselwirkungen mit den verordneten Medikamenten haben können. Theoretisch sollen alle Fäden beim Hausarzt zusammenlaufen. Doch selbst wenn es ihm gelingt, sich in der Eile der Sprechstunde einen Überblick über die Medikation eines Patienten zu verschaffen, ist die Frage nach der Priorisierung einer Therapie noch nicht entschieden. Kopf vor Herz oder Herz vor Kopf? Lieber einen Wirkstoff mit nur geringen kognitiven Nebenwirkungen, der den Blutdruck aber nur sanft senkt und damit höhere Blutdruckwerte erreicht? Um Beschwerden zu verringern, hilft manchmal nur, ein oder mehrere Medikamente wegzulassen. Dafür muss man allerdings in Kauf nehmen, dass vielleicht eine der Erkrankungen nicht mehr optimal behandelt wird. Leitlinien, wie die Hausärztliche Leitlinie Multimedikation oder die unter Federführung der DEGAM bis Ende 2016 entwickelte Leitlinie Multimorbidität können bei dieser oft schwierigen Abwägung helfen. Arzneimittellisten, wie die Priscus-Liste, die ungeeignete Medikamente für ältere Patienten benennen und besser geeignete Therapiealternativen vorschlagen, sind weitere wichtige Hilfsmittel (siehe Kasten).

Die Priscus-Liste


Die Priscus-Liste ist Teil eines Verbundprojektes Multimorbidität im Alter der Universitäten Bochum, Münster, Hannover, Bielefeld und Witten/Herdecke. Ziel der Liste ist es Wirkstoffe auszuweisen, die für ältere Menschen potenziell ein erhöhtes Risiko an unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen darstellen und daher vermieden werden sollten. Zu den Entwicklern der Priscus-Liste gehört Professor Petra Thürmann.

Frau Professor Thürmann, was ist bei älteren Menschen denn anders als bei jüngeren?

Da gibt es etliche Unterschiede. Zum einen lassen mit zunehmendem Alter die meisten Organfunktionen nach. Arzneimittel werden über die Nieren oder auch die Leber langsamer ausgeschieden und wirken damit länger und stärker. Zum anderen verändern sich auch die Bindungseigenschaften von Rezeptoren, deshalb spricht ein älterer Organismus z. B. stärker auf Benzodiazepine an als ein jüngerer.

Ist die Altersgrenze von 65 Jahren für die Priscus-Liste sinnvoll, sind Patienten nicht individuell zu verschieden?

Mit der Altersgrenze von 65 Jahren haben wir uns einfach am Rentenalter orientiert. Aber selbstverständlich muss man auch bei der Priscus-Liste beachten, ob man einen sehr fitten Senior vor sich hat oder einen bereits sehr eingeschränkten Menschen.

Ältere Menschen sind oft multimorbid. Was ist hier zu beachten?

Die Einzelstoffe der Priscus-Liste sind natürlich auch in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Verträgt beispielsweise ein Patient noch ein Medikament, das als Nebenwirkung die Gedächtnisleistung einschränkt, so kann es mit zwei oder drei dieser Medikamente gleichzeitig zu einer Verstärkung des Problems kommen.

Ein Thema für die MFA im DMP

Polypharmazie ist im hektischen Praxisalltag zunächst eine Frage des Bewusstmachens: Wie wirkt der Patient auf mich? Macht er einen stabilen Eindruck oder baut er ab? Wie ist seine häusliche Situation? War er kürzlich in einem Krankenhaus? Wann gab es den letzten Medikamenten-Check, etwa im Rahmen des DMP?

Ungeachtet des Wissens um unerwünschte Wechselwirkungen ist Polypharmazie immer auch eine Frage der Interaktion zwischen Arzt, MFA und Patient. 85 ist nicht gleich 85, durch die lange Lebenserfahrung und unterschiedliche körperliche und soziale Voraussetzungen hat jeder Patient spezifische Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese Individualität heißt es zu erkennen und in der Therapie zu nutzen.

Der Medikationsplan im E-Health-Gesetz


Im kürzlich verabschiedeten E-Health-Gesetz ist ein Medikationsplan verankert, auf den Versicherte, die gleichzeitig drei oder mehr verordnete Arzneimittel anwenden, ab Oktober 2016 einen Anspruch haben. Allerdings zunächst nur auf einen Medikationsplan auf Papier. Er soll Wegbereiter für die elektronische Version sein, die nach dem Gesetz ab 2019 bundesweit zur Verfügung stehen soll.

Der Papierplan soll dabei die inhaltliche Struktur für die spätere digitale Version vorgeben. Damit haben die Patienten dann zumindest schon einmal ein einheitliches Papier in der Hand, das nicht nur Ärzte, sondern auch Pflegekräfte schnell erfassen können. Und ihnen liegt ein strukturierter Plan vor, den auf Wunsch auch der Apotheker aktualisieren kann.

Bis Ende 2017 soll dann die Technik für den digitalen Medikationsplan auf der Datenautobahn der eGK stehen. Die digitale Variante kann dann für ein Jahr erprobt und bei Bedarf in ihren Funktionen angepasst werden.

Webtipp