Projektbericht
Antibiotika richtig einsetzen
Antibiotika zählen zu den weltweit am häufigsten verschriebenen Medikamenten und sind seit ihrer Entdeckung vor rund 90 Jahren das wichtigste Werkzeug bei der Behandlung bakterieller Infektionen. Heute kennen wir etwa 8.000 antibiotische wirksame Substanzen, aber nur etwa 1 Prozent davon (80) wird therapeutisch angewendet.
Und leider werden sie häufig auch verschrieben und eingenommen, obwohl sie gar nicht benötigt werden. Dadurch wird die Wirksamkeit von Antibiotika gefährdet, da durch ihren unbedachten Einsatz Resistenz-Bildung und -Verbreitung gefördert werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Dazu gehören die Erwartungen der Patienten, Zeitdruck in den Praxen aufgrund hoher Arbeitsbelastung und diagnostische Unsicherheit. Um hier gegenzusteuern, wurde das Projekt ARena („Antibiotika-Resistenzentwicklung nachhaltig abwenden") ins Leben gerufen. Ziel von ARena ist es, die Wirksamkeit von Antibiotika langfristig zu erhalten und Resistenzen zu unterbinden.
In den beteiligten Arztpraxen wurden verschiedene Maßnahmen erprobt, die zu einem rationalen Einsatz von Antibiotika führen sollen. Entwickelt wurde ARena im Rahmen der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie (DART 2020). ARena wird mit Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gefördert (Kennzeichen 01NVF16008).
Koordiniert und organisiert wurde ARena vom aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen. Partner waren die Agentur deutscher Arztnetze e.V., die AOK Bayern, die AOK Rheinland/Ham- burg sowie die KV Bayerns. Der AOK- Bundesverband unterstützte das Vorhaben als Kooperationspartner.
Ärzte, MFA und Patienten im Fokus
Zu den Informationsmaterialien gehören auch ansprechend aufbereitete Patientenbroschüren.
Die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie der Bundesregierung sieht Maßnahmen vor, um Resistenzen zu erkennen, Therapieoptionen zu erhalten und zu verbessern, Infektionen zu vermeiden und Infektionsketten frühzeitig zu unterbrechen. Klingt nach Corona, ist aber schon lange vorher auf den Weg gebracht worden. Dazu sollen das Bewusstsein der Bevölkerung für das Thema verbessert, die Kompetenzen des medizinischen Personals gestärkt und Forschung und Entwicklung unterstützt werden.
Insgesamt nahmen 196 Arztpraxen aus 14 Arztnetzen aus Bayern und NRW an der Studie teil. In einem von insgesamt drei Interventionsarmen stand insbesondere das Praxisteam im Fokus: Dort wurde neben anderen Interventionen für die MFA ein spezielles E-Learning zur Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten im Hinblick auf einen rationalen Antibiotika-Einsatz angeboten. Zudem wurden datenbasierte Qualitätszirkel durchgeführt, die von einer eigens dafür geschulten MFA aus den eigenen Reihen moderiert wurden. Insgesamt haben 99 MFA aus 57 Praxen (aus fünf Netzen) im gesamten Projektverlauf an diesem Interventionsarm teilgenommen. Im Projektverlauf fanden vier Qualitätszirkeltreffen zu folgenden Schwerpunktthemen statt:
- Häufige Infektionen – Fokus Atemwegsinfekte
- Der unkomplizierte Harnwegsinfekt
- Ambulant erworbene Lungenentzündung
- Multiresistente Erreger (MRE)
Neben fachlichem Input zum jeweiligen Thema und Rückmeldungen zu den von der Praxis getätigten Antibiotikaverordnungen im Vergleich zu anderen Praxen wurden immer auch Aspekte der Kommunikation und des Umgangs mit den Patientinnen und Patienten beleuchtet und diskutiert. Die Treffen wurden systematisch anhand des Qualitätskreislaufs durchgeführt und strukturiert protokolliert:
- Analyse der Praxisrealität: Was läuft bereits gut? Wo besteht Verbesserungsbedarf?
- Ziele: Welche Ziele sollen erreicht werden? Welche Maßnahmen müssen demzufolge in den Praxen umgesetzt werden?
- Umsetzung der qualitätsverbessernden Maßnahmen in den Praxen
- Evaluation: Konnte die Qualität in intendierter Richtung verbessert werden? Konnten die geplanten Ziele umgesetzt werden?
Zudem erhielten die Praxen ansprechend aufbereitete Informationsmaterialien für ihre Patienten: Plakate, Projektflyer, Tablet-PCs sowie Infozepte für Patientinnen und Patienten zu häufigen Infekten (Erkältung, Harnwegsinfektion, Mittelohrentzündung sowie Entzündungen der Nasennebenhöhlen) in sieben Sprachen (deutsch, arabisch, englisch, französisch, russisch, türkisch, vietnamesisch).
Unterstützung gab es auch im Netz: Über die sozialen Netzwerke konnte eine beachtliche Reichweite erzielt werden. Mit Beiträgen von Influencern werden vor allem jüngere Menschen dazu angeregt, sich mit dem Thema Antibiotika und Resistenzen zu beschäftigen. Auch die Website www.antibiotika-alternativen.de behandelt viele Aspekte rund um Antibiotika, wie etwa die Frage, warum diese nicht gegen Viren wirken. Erklärfilme wie „Husten, Schnupfen – Antibiotika?“ erhalten in der nun beginnenden Erkältungszeit besondere Relevanz.
Ein Blick auf die Ergebnisse
Befragungen im Rahmen des Projektes zeigten, dass die Patientinnen und Patienten heute seltener ein Antibiotikum erwarten, als es ihnen tatsächlich vom Arzt verordnet wird. Wenn kein Antibiotikum verwendet wurde und der Arzt dies gut begründet hat, waren 96 Prozent der Befragten damit einverstanden. 2018 lag die Einverständnisquote nur bei 81 Prozent. Die große Mehrheit der Patienten ist sich darüber im Klaren, dass Erkältungen bzw. grippale Infekte auch ohne Antibiotika heilen und dass diese Medikamente ernste Nebenwirkungen haben können. 84 Prozent der Befragten war die Resistenzproblematik bekannt. Prof. Joachim Szecsenyi, wissenschaftlicher Leiter der Studie, sagt dazu: „Aus den Befragungsergebnissen kann gefolgert werden, dass die Erwartungen der Patienten bezüglich der Verordnung eines Antibiotikums überschätzt werden. Die Verordnungsentscheidung für oder gegen ein Antibiotikum sollte gut erläutert und mit dem Patienten besprochen werden.“
Diese Fortschritte untermauern auch Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland. Demnach wurden im Jahr 2010 noch 562 Verordnungen pro 1.000 gesetzlich Versicherten ausgestellt, 2018 waren es nur noch 446 – ein Rückgang um fast 21 Prozent. Bei Neugeborenen und Säuglingen hat sich die Verordnungsrate von 2010 bis 2018 fast halbiert und im Kindergartenalter, wenn Kleinkinder oft zum ersten Mal mit Erregern in Kontakt kommen, gab es die höchste absolute Reduktion: von 1.213 Antibiotika-Verordnungen im Jahr 2010 auf 683 im Jahr 2018. Die derzeit noch laufende Evaluation auf Grundlage von Routinedaten scheint die Befragungsergebnisse zu bestätigen. Hier kristallisiert sich heraus, dass bei unkomplizierten Infektionen (akute Bronchitis, Sinusitis, Otitis Media, akute Infektion der oberen Atemwege, Tonsillitis) die Antibiotikaverordnung gesenkt werden konnte – deutlicher ausgeprägt als in der Regelversorgung. Bei Patientinnen mit Harnwegsinfektionen (akute Zystitis) bzw. bei Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie steigt der Verordnungsanteil an empfohlenen Antibiotika – sofern indiziert – bei ARena deutlicher als in der Regelversorgung, während der Verordnungsanteil an Fluorchinolonen sinkt.
Fazit
Antibiotikaverordnungen lassen sich tatsächlich reduzieren, wenn Arztpraxen mit Kommunikationshilfen und wissenschaftlich fundierten Informationen unterstützt werden und sich in datenbasierte Qualitätszirkeln in Arztnetzen austauschen.
Interview
Melanie Kiss ist MFA in der Hausarztpraxis Patientinnen und Pativon Dr. med. Andreas Lipécz in Nürnberg und Teilnehmerin am Projekt ARena.
Frau Kiss, Sie waren als MFA am ARena-Projekt beteiligt. Was wurde dort geschult und wie wurden die Lerninhalte vermittelt?
Bei einer Webkonferenz wurde uns zunächst ein Einblick in die weltweit zunehmende Situation der Antibiotika-Resistenzen gegeben und die entgegenwirkende Resistenz-Strategie der WHO und die DART 2020 vorgestellt. Die jeweiligen Krankheitsbilder der Themenbereiche des ARena Projektes, vor allem die Differenzierung zwischen Vermeidung und die Notwendigkeit der Verordnung von Antibiotika wurden ausführlich behandelt. Denn nach wie vor erwarten Patientinnen und Patienten die Verordnung von Antibiotika, obwohl diese oft für ihre Behandlung nicht zwingend notwendig wäre. Die Webkonferenzen haben uns auch auf die Qualitätszirkel für MFA vorbereitet, Frau Barisch und Frau Nöth vom Gesundheitsnetz QuE Nürnberg haben dann die ganzen organisatorischen Tätigkeiten übernommen. Dazu gehörte, andere MFA-Kolleginnen zu Qualitätszirkeln einzuladen, ihnen die Unterlagen zuzusenden und die Räumlichkeiten für die Veranstaltungen zu organisieren.
Was wurde in diesen Qualitätszirkeln diskutiert und wie liefen sie ab?
Je nach Themenbereich standen unterschiedliche Gedanken im Mittelpunkt. Meist entstand eine interaktive Diskussionsrunde, indem wir unsere Erfahrungen mit Patientinnen und Patienten, mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, Temperamenten und nicht zuletzt Erwartungen ausgetauscht haben. Eine effektive Kommunikation zwischen Patienten und Praxispersonal ist im Idealfall ein wesentlicher Bestandteil des Praxisgeschehens. Wir mussten im Rahmen unserer Gespräche jedoch auch feststellen, dass in der Praxis aus Zeitgründen die Kommunikation mit Patientinnen und Patienten manchmal etwas zu kurz kommt. Außerdem haben wir uns Gedanken über Strategien gemacht, wie wir die zur Verfügung gestellten Informationsmaterialien (Flyer, Plakate, Tablet) in den täglichen Praxisablauf integrieren können. Der Austausch mit MFA-Kolleginnen aus unterschiedlichen Hausarztpraxen war auf jeden Fall bereichernd, motivierend und ermutigend.
Wie lautet Ihr Fazit zum Projekt ARena?
Mein Fazit: Eine gegenseitige Motivation im Team ist allgemein gesprochen immer von Vorteil, doch gerade bei der Umsetzung von Neuerungen und Projekten ist sie unerlässlich. Kommunikation mit den Patienten beginnt mit dem ersten Kontakt am Telefon oder beim Eintreten in die Praxis. Dabei sollten sie bereits am Tresen an der Anmeldung mit Informationen konfrontiert werden. Im Rahmen des ARena-Projektes wurden dem Praxispersonal und dadurch auch den Patientinnen und Patienten die Situation der Resistenzentwicklung bewusst gemacht, um auf das Einnahmeverhalten von Antibiotika positiv einwirken zu können.
Hat sich Ihre Kommunikation durch die Corona-Pandemie geändert?
Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich der Informationsbedarf schwerpunktmäßig auf organisatorische Abläufe in der Praxis verlagert. Die Kommunikation findet zwar statt, nur auf einer anderen Ebene. Wir MFA sind damit beschäftigt, Patientinnen und Patienten Abläufe der Videosprechstunde, Telefonsprechstunde und der Hygienemaßnahmen zu erklären. Trotz der außerordentlichen Umstände sind wir dennoch bestrebt, unseren Patienten umfangreiche Möglichkeiten der Behandlung anzubieten. Durch die aktuelle Covid-19 Pandemie ist das ARena-Projekt ein Stückchen in den Hintergrund gerückt, aber ich hoffe, dass es langfristig in Erinnerung bleibt.
Zu viele Reserveantibiotika verordnet
Eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WidO) belegt den immer noch zu sorglosen Umgang mit Reserveantibiotika. Das Problem dabei: Reserveantibiotika sollten nicht zur Therapie von „normalen" Infektionen wie zum Beispiel Erkältungen eingesetzt werden, sondern nur im Bedarfsfall bei schweren bakteriellen Erkrankungen. Zwar zeigt die aktuelle Auswertung des WIdO, dass der Anteil der Reserveantibiotika an allen verordneten Antibiotika seit 2012 rückläufig ist – damals betrug er rund 66 Prozent im Jahr. Allerdings liegt der Verordnungsanteil mit 53 Prozent immer noch so hoch wie zur Jahrtausendwende – und das, obwohl man davon ausgehen kann, dass im ambulanten Bereich üblicherweise vergleichsweise harmlose Infektionen behandelt werden. Auch der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung verstärkt das Problem, denn die Wirkstoffe gelangen in die Nahrungskette. Der Vergleich der Antibiotikamengen in Tonnen zeigt, dass die ambulanten Verordnungen in der Humanmedizin nur die Spitze des Eisbergs darstellen: Während 2019 rund 339 Tonnen Antibiotika der Versorgung von Patientinnen und Patienten in Deutschland dienten, war es in der heimischen Tierhaltung mit rund 670 Tonnen fast das Doppelte. Insgesamt wurden über 1.000 Tonnen Antibiotika eingesetzt, darunter mindestens 376 Tonnen Reserveantibiotika.