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Serie Arzneimittelverordnung: Polypharmazie

Tatort Pillenbox

Patienten mit mehreren Erkrankungen erhalten oft einen ganzen Mix von Medikamenten – und therapieren sich darüber hinaus auch noch selbst. Was kann man da noch gegen unerwünschte Wirkungen tun? Eine Spurensuche am Tatort Pillenbox.
© fotokalle – fotolia.com
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Serie Arzneimittelverordnung

Keine Arzneimittelwerbung kommt ohne den obligatorischen Abspann aus: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Das hat seinen guten Grund, denn jedes wirksame Medikament hat auch Nebenwirkungen, die nicht erwünscht sind. Und immer gilt es, den potenziellen Nutzen und Schaden gegeneinander abzuwägen. Deshalb sollte sich der Arzt vor der Verordnung von Medikamenten über die Einnahme anderer Arzneimittel durch den Patienten informieren.

Unerwünschte Wechselwirkungen

Im Falle einer Vielzahl einzunehmender Tabletten können Arzt oder Apotheker jedoch nicht wirklich helfen, da es wenig gesichertes Wissen über die sogenannte Polypharmazie und ihre Unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen (UAW) gibt. Das betrifft vor allem ältere Menschen. Den Diabetes behandelt der Diabetologe, die Arthrose der Orthopäde, die Herzbeschwerden der Kardiologe, die Lungenerkrankung der Pneumologe und die anhaltenden Blasenentzündungen der Urologe. Noch schwieriger wird es bei einem Krankenhausaufenthalt. Hier bekommt der Patient oft einen veränderten Medikationsplan – zum Teil mit Medikamenten, die Komplikationen im Rahmen des stationären Aufenthaltes vermeiden sollen, dann aber unbemerkt doch weiter eingenommen werden. Dazu kommen noch die nicht verschreibungspflichtigen Präparate, die der Patient selbst in der Apotheke kauft und die keineswegs so harmlos sind, wie die Werbung der Arzneimittelhersteller das immer vorgibt.

Zwölf Tabletten – keine Seltenheit

Zwölf verschiedene Tabletten zu fünf verschiedenen Tageszeiten sind keine Seltenheit, wenn Menschen mit mehreren, teilweise chronischen Krankheiten leitliniengetreu behandelt werden. Man spricht von Polypharmazie. Besonders kompliziert ist das bei älteren Patienten.

Im fortgeschrittenen Alter kann der Körper immer schlechter mit Arzneimittelwirkstoffen umgehen, was Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung betrifft. Das Risiko für UAW steigt dadurch beträchtlich: Stürze beim nächtlichen Toilettengang aufgrund muskelrelaxierender Schlafmittel, Verwirrtheit, Magenbeschwerden als Folge von Dauermedikationen – um nur einige zu nennen. Doch weder die Leitlinien für krankheitsspezifische Behandlungsempfehlungen (z. B. im DMP Diabetes), noch die Arzneimittelstudien berücksichtigen die Besonderheiten des alternden Körpers. Und da Medikationspläne weder zwischen Haus- und Fachärzten noch zwischen dem stationären und dem ambulanten Bereich regelmäßig ausgetauscht werden, sind Probleme vorhersehbar.

Theoretisch sollen alle Fäden beim Hausarzt zusammen laufen. Doch selbst wenn es ihm gelingt, sich in der Eile der Sprechstunde einen Überblick über die Medikation eines Patienten zu verschaffen, ist die Frage nach der Priorisierung einer Therapie noch nicht entschieden. Kopf vor Herz oder Herz vor Kopf? Lieber einen Wirkstoff mit nur geringen kognitiven Nebenwirkungen, der den Blutdruck aber nur sanft senkt und damit höhere Blutdruckwerte in Kauf nimmt? Hierzu gibt es bislang keine praxistauglichen Handlungsempfehlungen.

Hilfreiche Listen für den Arzt

Einen ersten Ansatz zur Erleichterung der Therapieentscheidung stellen Arzneimittellisten dar, die geeignete und ungeeignete Medikamente für ältere Patienten aufzählen. Eine davon ist die Priscus-Liste mit Therapiealternativen und Maßnahmen, wenn das Mittel trotzdem eingesetzt werden soll, sowie Kontraindikationen, bei deren Vorliegen davon abzuraten ist. Mehr dazu lesen Sie im Kasten und im Web-Tipp. Um diese wissenschaftlichen Erkenntnisse schnell in die Praxis umzusetzen, bieten die kassenärztlichen Vereinigungen Fortbildungen an. Beratungsapotheker der Krankenkassen schulen Ärzte im Rahmen ihrer Arztberatung und ärztliche Qualitätszirkel erarbeiten praxisnahe Handlungsempfehlungen zur Priorisierung der Therapie wie zum Beispiel die Ärztegenossenschaft Nord in Schleswig-Holstein zusammen mit der BARMER GEK.

Die Priscus-Liste

© Digitalpres – fotolia.com
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Für viele Patienten ist eine Medikamentenbox ein wichtiges Hilfsmittel

Trotz des Alters mit seinen Gebrechen respektiert zu werden und in Würde leben zu können – so wünschen sich die Wissenschaftler und Entwickler der Priscus-Liste um Frau Prof. Petra Thürmann vom HELIOS Klinikum Wuppertal das Alter. Das soll auch der Name verdeutlichen, denn priscus kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie altehrwürdig.

Die Priscus-Liste ist Teil eines Verbundprojektes Multimorbidität im Alter der Universitäten Bochum, Münster, Hannover, Bielefeld und Witten/Herdecke. Ziel der Liste ist es Wirkstoffe auszuweisen, die für ältere Menschen potenziell ungeeignet sind und ein erhöhtes Risiko an unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen darstellen. Die Medikamente der Priscus-Liste sind in 15 Gruppen eingeteilt.

Zu jedem Medikament gibt es Therapiealternativen, Maßnahmen, wenn ein Mittel trotzdem eingesetzt werden soll sowie Kontraindikationen, bei deren Vorliegen davon abzuraten ist. Die Liste dient Ärzten und Apothekern als Hilfestellung in der Arzneimitteltherapie.

Auch ein Thema für die MFA

Zu solchen Projekten gehört nicht nur das Wissen um UAW, hierzu gehört vor allem auch das Wissen um den Patienten. Aus diesem Grund kommt den MFA in dem Pilotprojekt der BARMER GEK als Dialogpartnerin eine besondere Rolle zu. Polypharmazie ist im hektischen Praxisalltag zunächst eine Frage des Bewusstmachens: Wie wirkt der Patient auf mich? Macht er einen stabilen Eindruck oder baut er ab? Wie ist seine häusliche Situation? War er kürzlich in einem Krankenhaus? Wann gab es den letzten Medikamenten-Check?

Das Frailty-Syndrom (vom englischen frailty, Gebrechlichkeit) dient hierbei als das etablierteste Instrument zur Abschätzung der physiologischen Kapazitäten eines älteren Menschen. Wenn bei einem Patienten im fortgeschrittenen Lebensalter drei oder mehr der nachfolgend aufgeführten Faktoren vorliegen, spricht man von einem Frailty-Syndrom:

  • Unfreiwilliger Gewichtsverlust
  • Muskelschwäche
  • Frühzeitige Erschöpfung
  • Unsicherer Gang / Immobilität
  • Herabgesetzte körperliche Aktivität

Ältere Patienten unterstützen

Geriatrie ist viel Kommunikation, wiederholtes Erläutern, Nachfragen. Zur besseren Einbeziehung des Patienten in seine Therapie, bitten Sie diesen seine Medikamente mitzubringen. Ein Arzneimittel-Check sollte nach einem festgelegten Rhythmus terminiert werden (z. B. halbjährlich). Vor allem erfragen Sie die Einstellungen des Patienten zu seinen Gesundheits- und Krankheitsüberzeugungen. Beraten Sie über Indikation, Dosis und Einnahmevorschriften. Fragen Sie den Patienten nach Erinnerungstechniken, die ihm bei der täglichen Einnahme helfen.

Ungeachtet des Wissens um unerwünschte Wechselwirkungen ist Polypharmazie immer auch eine Frage der Interaktion zwischen Arzt, MFA und Patient. 85 ist nicht gleich 85, viele Jahre Lebenserfahrung und unterschiedliche körperliche und soziale Voraussetzungen erlauben jedem Patienten spezifische Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese Individualität heißt es zu erkennen und in der Therapie zu nutzen.

Sonja Laag