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Entbürokratisierung zwischen Ärzten und Krankenkassen

007 – der Vordruck stirbt nie

Sein neuester Fall führt James Bond in die deutsche Selbstverwaltung. Im Papierkrieg zwischen Ärzten und Krankenkassen soll er ermitteln – während in Westfalen-Lippe bereits am Formularfrieden gearbeitet wird. Ein fast reales Drehbuch mit Bond, seinem Vorgesetzten M sowie Krankenkasse und Arzt.
© vege, Gina Sanders, Peter Atkins – alle fotolia.com; montiert
© vege, Gina Sanders, Peter Atkins – alle fotolia.com; montiert

Serie Bürokratieabbau

Berlin, Bundesgesundheitsministerium: M wartet auf James Bond (JB).

JB: Ein ungewöhnlicher Einsatz. Finanzkrise, medizinischer Fortschritt, demografische Entwicklung – hat man hier nichts Besseres zu tun, als sich über Formulare zu streiten?

M: Nach der Faxaktion der Ärzte während der letzten Honorarverhandlungen wussten wir keinen anderen Rat mehr.

JB: Was ist das Problem?

M: Ein Bürokratiemonster.

JB: Wer sind die Hintermänner?

M: Das sollen Sie herausfinden. Angeblich weiß man in Westfalen-Lippe mehr. Fahren Sie dort hin und nehmen Sie das hier mit. M überreicht Bond einen schweren Aktenordner. Mustervordrucke und einige formfreie Kassenanfragen. Viel Glück!

Bond blättert im Bordrestaurant des ICE nach Wuppertal in der Vordruckmappe. Er stößt auf Muster 4: Nicht umsetzbar aus Rollstuhl, lautet eins der Ankreuzfelder. Bond runzelt die Stirn. In Wuppertal springt er in die Schwebebahn, wo er von einer Mitarbeiterin der BARMER GEK Krankenkasse (KK) erwartet wird.

KK: Es gibt viele Frontlinien in diesem Krieg. Der Arzt fühlt sich dem einzelnen Menschen gegenüber verpflichtet.

JB: So sollte es sein.

KK: Die GKV schuf einen Rechtsanspruch auf medizinische Versorgung für alle! Die solidarische Finanzierung erfordert, dass wir Krankenkassen uns an gesetzliche Regeln halten. So wird die Krankheit eines Patienten zu einem gesellschaftlich gesteuerten Vorgang. Viele Ärzte hegen Ressentiments gegen diese Vergesellschaftung ihrer freiberuflichen Tätigkeit. Anfragen der Kassen empfinden sie als Kontrolle.

JB: Freiberuflichkeit schützt nicht vor gesetzgeberischen Eingriffen.

KK: Nehmen Sie Ihren Coffee to go geschüttelt oder gerührt?

JB: Auf alle Fälle mit Keks.

KK: Die Verwaltung setzt Gesetze um, und das Formular ist ein Organisationsprinzip in einem modernen Staat.

JB: Verstehe. Feste Verfahrensabläufe schützen vor persönlicher Willkür. Aber, wie ist das Ganze eigentlich entstanden?

KK: Anfang der 1930er Jahre übertrug der Staat seine hoheitlichen Aufgaben auf die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen, indem er sie zu Körperschaften des öffentlichen Rechts machte.

JB: Und was ist die Rolle des einzelnen Arztes?

KK: Die GKV hat den Arzt um 1900 zur Deutungsinstanz über Gesund und Krank gemacht. Die nicht ärztlichen Berufe professionalisierten sich erst lange danach ab den 1970er Jahren. Deshalb müssen alle Leistungen durch das Nadelöhr der ärztlichen Verordnung.

JB: Wer entwirft die Verordnungen?

KK: Krankenkassen und Ärzte gemeinsam. Die Hintermänner sitzen in der Formularkommission auf Spitzenverbandsebene in Berlin.

Bond fährt zum Pilotprojekt in Westfalen. Dort wird zwischen Arztpraxen, der KV, Kassenmitarbeitern und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen über Formulare gesprochen.

JB: Was bedeuten die Zahlen auf manchen Formularen?

KK: Das sind Mustervordrucke, die zwischen Kassen, Ärzten und dem Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) abgestimmt sind.

JB: Hier können Ärzte also beruhigt Auskunft geben.

KK: Ja. Schwierig wird es bei unseren kassenindividuellen Anfragen. Die schicken wir, wenn es keine Mustervordrucke gibt. Arzt: Da stehen Fragen drin wie Kann nicht ein Angehöriger den Rollstuhl schieben? Das ist für den Arzt schwierig zu entscheiden.

JB: Darf die Kasse so etwas fragen?

KK: Das Gesetz verpflichtet die Kassen dazu, Ärzte beim Versorgungsmanagement zu unterstützen. Alle Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Sozialdaten darf eine Kasse nur erheben, wenn es für ihre Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Die Auskunftspflicht des Arztes ist gesetzlich geregelt. Gibt es keinen Mustervordruck, können formfreie Anfragen verwendet werden. Bislang ist nicht definiert, was Erforderliches genau beinhaltet und wie es abgefragt wird. In Westfalen erarbeiten wir Standards.

JB: Könnte man daraus Mustervordrucke erstellen? Arzt: Sollte man überlegen. Kassen haben keine Lizenz zum Totfragen. Außerdem fragen Sie immer früher nach, gerade bei Arbeitsunfähigkeit.

KK: Wir stellen die Qualität der ärztlichen Versorgung nicht grundsätzlich in Frage, aber wir sehen auch, was passiert, wenn nichts unternommen wird.

JB: Sie sind eben kein Casino Royal, alles dient der Finanzierung des Systems.

KK: Jede Taxifahrt hat ein Preisschild. Verordnungen sind Blankoschecks, die ein Arzt ausfüllt, ein Patient mitnimmt, ein Dritter einlöst und die von der Krankenkasse gedeckt sind. Allein wir haben zum Beispiel 130.000 HKP-Empfänger und erhalten dafür 700.000 Vordrucke pro Jahr. Ärzte kennen oftmals nicht die Richtlinien, was zu Nachfragen führt. Arzt: Ich kann nicht alle Richtlinien kennen. Das sind hunderte Seiten und die Versorgung entwickelt sich ständig weiter.

KK: Das ist die eigentliche Herausforderung – die Anpassung der Vordrucke und die Reduzierung auf die wichtigsten Fragen. Manches ließe sich in einem persönlichen Gespräch schneller klären. Es gibt Praxen, die vereinbaren Sprechzeiten mit den Kassen. Arzt: Manchmal lesen die Kassen aber auch nicht, was wir schreiben.

KK: Der Hauch der Handschrift – unleserlich, unvollständig oder s. Vorbericht, wo es keinen gab. Dann müssen wir wieder nachfragen, vor allem, wenn der Arzt sich am Telefon verleugnen lässt.

JB: Dr. No?

KK: Solange ich anderen die Schuld geben kann, muss ich mich nicht ändern. Manchmal liegt es auch an uns. Auch wir müssen Prozesse optimieren.

Zurück im Bundesgesundheitsministerium. Bond erstattet Bericht.

M: Nun, was haben Sie herausgefunden?

JB: Erstens: Ärzte und Krankenkassen möchten Patienten gut versorgen, pflegen aber oft ihre Vorurteile, anstatt ihre Probleme konstruktiv im Sinne aller zu lösen. Zweitens: Weniger abfragen ist Mehr, übersichtlich und klar verständlich. Drittens: Mustervordrucke sind in Layout, Sprache und Verständlichkeit stark überaltert und Arbeitsroutinen in Praxen und bei Kassen nicht angepasst. Viertens: Die Formularkommission scheut Veränderungen, da ein kleines verrücktes Kästchen sich massenhaft negativ ausbreiten kann. Und fünftens: Der medizinische Fortschritt ermöglicht immer mehr, allerdings wächst damit auch der finanzielle Druck auf das System.

M: Und, was schlagen Sie vor?

JB: Berlin allein ist nicht genug. Entbürokratisierung beginnt im Kopf – Ärzte, MFAs und Kassenmitarbeiter müssen das gemeinsam tun. In Westfalen-Lippe schreitet man bereits zum Äußersten.

M: Und das wäre?

JB: Man redet miteinander.

Sonja Laag


Das Formularwesen

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entscheidet mit seinen Richtlinien darüber, welche Leistungen unter welchen Voraussetzungen ein Arzt verordnen darf und wo eine Genehmigungspflicht der Krankenkassen vorliegt. Im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme einer Leistung geht es immer auch um Auskünfte über den Patienten an die Krankenkasse, damit diese beurteilen und entscheiden kann.

In den Bundesmantelverträgen (§ 36 Primärkassen / § 6 Ersatzkassen) sowie in der Vordruckvereinbarung (jeweils als Anlage 2) sind die Modalitäten zum Formularwesen geregelt. Grundsätzlich ist der Vertragsarzt befugt und verpflichtet, den Krankenkassen und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) für deren gesetzliche Aufgaben Auskünfte zu erteilen. Für viele Leistungen gibt es die zwischen Kassen und Ärzten auf Bundesebene in der Formularkommission vereinbarten Mustervordrucke, die bundesweit eingesetzt werden müssen.

Wenn es keine vereinbarten Vordrucke gibt, dürfen die Krankenkassen sogenannte formfreie Arztanfragen verwenden, die von den Krankenkassen individuell gestaltet werden und seit Jahren ein hohes Maß an Unsicherheit und Konfliktpotenzial zwischen Ärzten und Krankenkassen bieten. Hier stehen die Verschwiegenheitspflicht des Arztes sowie der individuelle Leistungsanspruch, der aus solidarisch aufgebrachten Mitteln finanziert wird, in einem Spannungsfeld. Dazu mehr in der nächsten Ausgabe.

Pilotprojekt Entbürokratisierung
Seit Sommer 2011 gibt es in Westfalen-Lippe (Borken, Münster, Dortmund) ein Pilotprojekt zwischen der BARMER GEK und der dortigen Kassenärztlichen Vereinigung (KVWL). Das Herz des Projektes ist der gemeinsame Dialog an der Basis darüber, wie die bürokratische Arbeit vor Ort im Alltag auf allen Seiten erleichtert werden kann. Ziel: die Überarbeitung aller relevanten Vordrucke, die Standardisierung formfreier Anfragen sowie die regionale Erprobung der überarbeiteten Vordrucke.