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Serie Geriatrie: Einführung

Spuren im Sand

Was wissen wir in der Hausarztpraxis über unsere alten Patienten? Oft passen sie nur schwer in den straff geplanten Praxisablauf und alles braucht mehr Zeit als geplant. In einer dreiteiligen Serie Geriatrie setzt sich info praxisteam mit Grundlagen der Geriatrie, Praxisstrukturen sowie Umgangsformen mit älteren Menschen auseinander.
© MAK – fotolia.com
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Das Bild von den alten Patienten, die am Montagmorgen die Praxis verstopfen, weil sie sonst keine sozialen Kontakte haben, wird oft bemüht. Andererseits betonen gerade Hausärzte die Bedeutung einer langjährigen Arzt-Patienten-Beziehung für den Behandlungserfolg. Wie passt das zusammen? Wird nicht gerade dem alten Patienten damit pauschal unterstellt, dass er eigentlich ein Zeitfresser ist? Und selbst wenn das Bild stimmen sollte, was sagt es dem Arzt und was sagt es Ihnen als MFA?

Geriatrie beginnt mit der eigenen Haltung zum Älterwerden. Wir als Erwachsene im jungen und mittleren Alter können uns noch daran erinnern, wie es war Kind zu sein. Wir können es uns aber nicht vorstellen, wie es ist, alt zu sein. Wenn die Zeit uns zwingt, die Zukunft loszulassen, werden wir zu Betrachtern unseres gelebten Lebens. Wie soll sich ein 86-Jähriger seine Zukunft auch groß ausmalen? Zur geriatrischen Medizin gehört das Ernstnehmen und Wertschätzen der Lebenssituation eines alten Menschen, seiner Biografie, seiner biologischen Todesnähe, der Irreversibilität seines Lebensweges.

Gerade das Team der Hausarztpraxis als langjährige Anlaufstelle sollte Patienten helfen können, trotz körperlicher Gebrechlichkeit ihr Leben anzunehmen. Dazu braucht es ein Altersbild, das die Mühen und das Leid des Älterwerdens nicht unterschlägt und deshalb umso mehr ressourcenfördernd und wertschätzend ist. Bei allen Vorteilen einer langjährigen Arzt-Patientenbeziehung muss sich ein Praxisteam auch darüber bewusst sein, dass es vielleicht gerade die alten Patienten übersieht, weil man meint, dass man alles über sie weiß. Vermeiden Sie Generalisierungen und Stereotype in ihrem Kopf und machen Sie sich bewusst, dass die Umstände sich beim Patienten verändern, dass Sie und der Arzt nicht wissen, was im Kopf und Körper des Patienten gerade jetzt vor sich geht.

Die Gebrechlichkeit (frailty) unterliegt bisher keiner allgemein akzeptierten Begriffsdefinition. Man zieht als Kriterium für einen geriatrischen Patienten bisher entweder ein bestimmtes Alter heran (z. B. 80 Jahre) oder Hinweise wie Sturz, Schwindel, Krankenhausaufenthalt in den letzten 12 Monaten, Risikoprofil nach Geriatrischem Assessment (Dazu mehr im Teil 2 der Serie).

Viele Probleme nebeneinander

Charakteristisch für geriatrische Patienten ist, dass sie chronische wie akute Erkrankungen nebeneinander und gleichzeitig haben – z. B. Herzinsuffizienz, Diabetes, Harnwegsinfekte, Schwindel, dauerhafte Schmerzen, Bronchitis, Inkontinenz, Folgen von Stürzen, Demenz, chronische Wunden, Parkinson, Depression, Lungen- und Atemwegserkrankungen. Das zwingt einerseits dazu, viele Faktoren zu berücksichtigen, erfordert andererseits aber oft auch eine schwierige Beschränkung auf eine begrenzte Zahl von Maßnahmen.

Innerhalb der Medizin überwiegt nach wie vor das Auftherapieren, nicht aber die Priorisierung oder die Kunst des Weglassens. Polypharmazie ist ein Ausdruck dieses Geschehens. Die Multimorbidität der Patienten setzt einer leitlinienbasierten Therapie nach Einzeldiagnosen Grenzen. Der alternde Körper verändert sich, die Funktion der Organe lässt nach sowie die Reservefähigkeit des Menschen. Schnell wird aus einem fiebrigen Harnwegsinfekt ein stationärer Aufenthalt und eine folgende Pflegebedürftigkeit. Der schnelle Verlust der Selbstständigkeit kann ebenso durch nicht abgestimmte Therapien mit ihren Wechselwirkungen ausgelöst werden.

Eine Priorisierung der Therapie braucht neben geriatrischem Wissen eine gute subjektive Einschätzungsfähigkeit des Gesamtzustandes und vor allem die Respektierung der Patientenwünsche. Das Team der Hausarztpraxis sollte von sich aus ein vorausschauendes Auge auf seine alten Patienten haben. MFA können hier einen großen Teil zur Versorgungssicherheit leisten, indem sie darauf achten, dass ihre alten Patienten z. B. regelmäßig einen Arzneimittelcheck erhalten, vor allem nach Krankenhausaufenthalten.

Versuchen Sie Ihre Wahrnehmung für die alten Patienten zu schärfen und vielleicht etwas mehr Zeit einzuplanen. Wissen der Chef oder die Chefin als langjährige Hausärzte wirklich, wie es Zuhause beim Patienten aussieht? Will er etwas erzählen, manchmal über Umwege? Gerade der MFA vertrauen Patienten oftmals eher belastende und mit Scham verbundene Probleme wie z. B. Inkontinenz an als dem Arzt. Manchmal braucht es einen Menschen als Brücke – eine MFA kann hervorragend eine solche in der Arzt-Patientenbeziehung sein.

Stellen wir uns also ehrlich die Frage: Verstopfen die Alten die Praxis oder fällt es uns nur schwer, ihren Nöten zu begegnen? Deine Spuren im Sand, die ich gestern noch fand ...

Sonja Laag


Geriatrie im Überblick

© wikimedia commons
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Ignatz Leo Nascher (1863 – 1944) war ein US-amerikanischer Mediziner österreichischer Herkunft und gilt als Begründer des Begriffs Geriatrie, den er in Anlehnung an die Pädiatrie als besondere Medizin für die alten Menschen prägte. Geriatrie kommt aus dem Griechischen, geras heißt Greis, iatreia heilen.

Geriatrie bedeutet das gleichzeitige Behandeln akuter und chronischer Erkrankungen unter Berücksichtigung präventiver und rehabilitativer Aspekte sowie des Lebensumfeldes. Oberstes Behandlungsziel ist die Bewahrung der Selbstständigkeit, allerdings gibt es für die Erreichung dieses Behandlungsziels aufgrund der komplexen Problemlagen keine Leitlinien und evidenzbasierte Behandlungsorientierung. Geriatrie heißt, den Fokus auf Funktionen zu richten und die Behandlung gemeinsam mit den Patienten im Team zu priorisieren.

Trotz steigender Patientenzahlen ist die Geriatrie in Deutschland nur marginal präsent. Das Interesse der Medizin liegt nach wie vor eher in spezialisierten Fächern als in der Altersmedizin, die hohe sozialmedizinische sowie palliative Kompetenzen erfordert. Mit sieben Lehrstühlen ist die Geriatrie im universitären Bereich unterrepräsentiert – in den Niederlanden sind es 23. Im hausärztlichen Bereich wird oft keine Notwendigkeit für geriatrische Fortbildung gesehen. Erst seit 2012 gibt es ein 60-Stunden-Fortbildungscurriculum für Hausärzte. Darüber hinaus ermöglichen die Strukturen im ambulanten Abrechnungssystem keine Teamstrukturen, wie sie für die Geriatrie aus Arztpraxis, Pflege, Physiotherapie und Reha vonnöten wären.