Das Magazin für Medizinische Fachangestellte

Serie Geriatrie: Strukturierte Behandlung und Patientenkommunikation

Eingeschlossene Erinnerungen

Die Lebensgeschichte kann ein Schlüssel sein, der uns verstehen lässt, wie ein älterer Patient mit seiner Krankheitsgeschichte umgeht. Viele Erlebnisse sind in seinem Inneren oft für eine lange Zeit eingeschlossen. Je älter er wird, desto mehr drängen sie ans Licht – durch Erzählung, Sucht oder Schweigen. Im dritten und letzten Teil unserer Serie geht es um das Zuhören, das im hektischen Praxisalltag oft zu kurz kommt.
© Jerzy Czcerkowski – fotolia.com
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Serie Geriatrie


Aus Erfahrungen werden Erinnerungen. Wie aber leben unsere Erinnerungen? Wieso erinnern wir uns bei kognitiv abnehmender Gedächtnisleistung am besten an Erlebnisse, die lange zurück liegen und aus einer oft schon verschwundenen Zeit stammen? Erinnerungen bringen Freude, aber auch die Traurigkeit darüber, dass vieles vorbei ist und nicht mehr wiederkommt. Erinnerungen im Alter können starke Heimwehgefühle nach den eigenen Wurzeln auslösen. Sie können die Ursache eines auffälligen Verhaltens, einer Depression oder auch einer Medikamentensucht sein.

Dass die Fähigkeit sich zu erinnern etwas mit stark erlebten Gefühlen zu tun hat, gilt in der Wissenschaft als unstrittig. Fakten lassen sich im Leben nicht rückgängig machen, sehr wohl aber der Blick auf diese Fakten und die damit einhergehenden Emotionen. Im Erzählen von Geschichten können dadurch Gefühle verändert werden, der Mensch kommt mehr in Kontakt mit sich selbst.

Lebensrückblick gibt Kraft

Die Kraft des Lebensrückblicks heißt ein Buch von Verena Kast. Dieser Aspekt sollte gerade in der Behandlung älterer Patienten berücksichtigt und genutzt werden. In der Behandlung der älteren Patienten werden Behandlungsziele priorisiert, kommen diagnostische und therapeutische Grenzen eher zum Tragen als bei Jüngeren. Diese Grenzen gilt es gemeinsam mit dem Patienten auszuloten. Das geht nur über ein Gespräch.

Da MFA und Arzt Patienten aus Zeitgründen nur bis zu einem gewissen Grad ausreden lassen (können), fällt ein solches Gespräch nicht immer leicht. Die Einordnung der dem Patienten lebensgeschichtlich wichtigen Erlebnisse in die Therapie gelingt am besten, wenn der Patient dauerhaft und regelmäßig in einer Praxis behandelt und betreut wird. Ein Arzneimittelcheck kann z. B. in der Geriatrie nicht einfach losgelöst von anderen Problemen des älteren Patienten gesehen werden.

In einem Pilotprojekt der BARMER GEK mit der Ärztegenossenschaft Nord eG und dem Medizinischen Praxisnetz Neumünster zur Strukturierten Arzneimitteltherapie multimorbider Senioren (SAmS) haben teilnehmende Praxen damit begonnen, systematisch ihre betreuungsintensiven Patienten zunächst aufzulisten. Kathrin Kellotat, eine der teilnehmenden MFA, hat dafür in der Praxissoftware einzelne Einträge besonders markiert, z. B. das Alter. Das lässt sich in jedem System einstellen, sagt die MFA. Anschließend wurden die Akten von der Ärztin durchgearbeitet, um noch einmal anhand der Krankengeschichte zu prüfen, welche Patienten in die strukturierte Versorgung eingeschrieben werden können.

In der Praxissoftware bekommen diese einen elektronischen Reiter und werden somit beim nächsten Praxisbesuch automatisch auffällig. Für die Patienten wird dann systematisch ein Medikamentenplan erstellt, der nach einem halben Jahr wieder geprüft wird, sodass eine regelmäßige Kontrolle der Arzneimitteltherapie stattfindet – analog etwa der Recall-Systeme im DMP. Eine kommunikative Herausforderung im Projekt sind z. B. Patienten mit einem hohen Gebrauch von Schlaf- und Schmerzmedikamenten sowie Antidepressiva.

Schmerzhafte Erlebnisse

Oft leiden ältere Patienten an einem chronischen Schmerzsyndrom, Männer eher unter aggressivem Verhalten. Da wird die schmerzhafte Biografie zum körperlichen Schmerz, sagt Hausarzt Dr. Svante Gehring, der das SAmS-Projekt aus ärztlicher Sicht leitet. In der älteren Generation sind oft die Kriegserlebnisse wie Tod, Verstümmelung oder Vergewaltigung noch traumatisch präsent. Bei Verdacht auf ein solches Trauma eröffnet er ein Gespräch schon mal mit: In meiner Praxis habe ich ältere Patienten mit starken Schmerzen, die mir von ihrer belastenden Biografie, ihren Kriegserlebnissen berichtet haben. Kennen Sie das auch? Denken Sie auch an solche Erlebnisse, wenn Sie sich leer fühlen, wenn Sie traurig sind?

Die stille Übereinkunft

Oft liegen schmerzhafte Ereignisse vor, ohne dass sie ausgesprochen werden. Manche Patienten reden nicht gerne über ihre Erlebnisse, auch als Schutz vor einer Retraumatisierung. Wichtig ist es aber, dass der Patient seine Symptome als eine Folge akzeptiert. Ich versuche dann eine Brücke zu bauen, dass jeder Mensch Gründe hat so zu sein, wie er nun einmal ist. Dieses indirekte Besprechen mit der stillen Übereinkunft des Wissens um die Ereignisse, ohne sie aussprechen zu müssen, begründet eine vertrauensvolle Arzt / MFA-Patienten-Beziehung und kann zu einer Besserung beitragen, so Gehring.

Wichtig ist es im Lauf der Behandlung auch, eventuelle Schuldgefühle zu zerstreuen. Dazu muss eine persönliche Atmosphäre geschaffen werden, in der sich der Patient öffnen kann, was oft erst nach einer jahrelangen vertrauensvollen Beziehung möglich ist. Dann kann es dem Patienten tatsächlich gelingen, seinen Lebensschmerz sichtbar einzuschließen – so wie ein Fossil in einem Bernstein.

Bernstein, so heißt es, seien die steingewordenen Tränen der Götter.

Sonja Laag

Kommunikation mit dem alten Patienten

Grundhaltung

  • unvoreingenommene Wahrnehmung
  • authentisches Interesse
  • Einfühlung, Respekt, Fürsorge, Geduld
  • Selbstwahrnehmungsfähigkeit

Sprache

  • kein Baby-Talk
  • keine Verniedlichungen
  • keine übertriebenen Betonungen
  • Augenkontakt, gut verstehbare Stimme, zugewandte Körperhaltung

Inhalt

  • aktives Zuhören
  • motivierende Gesprächsführung
  • offene Fragen, zum Erzählen anregen
  • Vergewisserung (Ich habe wahrgenommen, dass Sie ...)
  • keine Konfrontation, kein Moralisieren

Validation

Portrait: Naomi Feil © Radio Bremen

Die Validation (aus dem Lateinischen valere = wert sein) ist eine Methode, die für die Begleitung von Menschen mit Demenz entwickelt wurde. Sie hat zum Ziel, das Verhalten solcher Patienten als für sie gültig zu akzeptieren (zu validieren). Entwickelt wurde sie von der 1932 in München geborenen US-amerikanischen Gerontologin, Sozialarbeiterin und Schauspielerin Naomi Feil. Sie wuchs als Kind in einem Altenheim auf, das ihr Vater leitete. Von frühester Kindheit an beobachtete sie die Verhaltensweisen alter Menschen. Ziel ihrer Methode ist es, auf die Verhaltensweisen verwirrter und dementer Menschen beruhigend einzugehen, so dass belastende Situationen und Spannungen gemildert werden können. Der Einsatz psychopharmakologischer Medikamente kann dadurch oft reduziert werden. Oberstes Validationsprinzip ist die Wertschätzung des alten Menschen. In der Altenpflege ist die Validation eine anerkannte Methode.

Buchtipp

Buchcover
Douwe Draaisma: Die Heimwehfabrik.
Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert.
176 Seiten, Verlag Herder; ISBN: 978-3451062735. 9,95 Euro.
Eine wissenschaftlich fundierte und unterhaltsam geschriebene Zusammenfassung.